Montag, 19. Dezember 2016

Lern-Blockade? (Be)greifen Sie doch mal wieder!

Wissen Sie, was eine Wellhornschnecke ist? Ich ja! Das Schneckenhaus dieser Meeresschnecke hatte einst meine Biologielehrerin in den Unterricht mitgebracht und durch die Reihen meiner Mitschüler reichen lassen. Meine Fingerkuppen erinnern sich heute noch genau an ihre Oberflächenstruktur. Und nicht nur das: Sie bringen mir die ganze damalige Szene in Erinnerung, inklusive der weißen Bluse meiner Lehrerin. Dass Greifen etwas mit Begreifen zu tun hat – und Begreifen mit Greifen, ist State of Art. Aber ist in Wirklichkeit dieses taktile Erlebnis dem visuellen nicht sogar überlegen? Zumindest was das Erinnern daran angeht? Vielleicht ist es da ja wie mit dem ersten Kuss? An den erinnert man sich bestimmt besser als an den ersten Filmkuss seines Lebens.

Eine Studie aus Bielefeld stützt jetzt diese These. Forscher von der Universität dort zeigen mit einem Experiment, wie sich Wortverstehen beschleunigen lässt: indem die Versuchspersonen gleichzeitig zum Lesen Objekte greifen dürfen.

Seit kurzem nehmen neue Theorien der Kognitionsforschung an, dass unser Gedächtnis als Teil von Begriffen auch Körperempfindungen speichert. Ein Wort wie ,Quirl‘ speichert das Gehirn wie in einem Lexikon und verankert es dort mit Konzepten wie ,unbelebt‘ und ,Küchengerät‘. Zusätzlich verbindet es das Wort mit der eigenen Erfahrung, wie sich ein Schneebesen anfühlt und dass zum Beispiel eine Schleuderbewegung damit verbunden ist.

Die Bielefelder Studie mit 28 Versuchspersonen stützt diese These des Embodiments (Verkörperung) von Wissen:

Wenn die Versuchspersonen beim Lesen ein Objekt in die Hand nahmen, versrbeitete ihr Gehirn Teile der Wortbedeutung früher als in vorangegangenen Studien ohne Greifen.

Die Versuchspersonen saßen dabei vor einem Bildschirm und hatten vor diesem Bildschirm drei unterschiedlich große Würfel vor sich. Nun erschienen Wörter in einem diesen Würfeln zugeordneten Feldern auf dem Screen. Wurde ein Pseudowort wie „Quarl“ eingeblendet, mussten die Probanden nichts tun. Erschien ein echtes Wort wie „Orange“, so sollten sie den unter dem Feld liegenden Würfel greifen.

Ergebnis: Die Verarbeitungszeit beim "Seh-Greifen" verkürzte sich von einer Drittelsekunde auf eine Zehntelsekunde, wenn eine Greifaktion damit verbunden war.

Die Hoffnung der Forscher: Ihre Erkenntnisse könnten als Therapie für Schlaganfall-Patienten genutzt werden. Diese könnten so vergessene Wörter trainieren.

Da generell das Wortwissen so durch die Hintertür der Bewegungskontrolle gestärkt wird, könnte diese Methode nicht nur Schülern und Studenten das Erlernen neuer Sachverhalte erleichtern.

Fröhliches Begreifen, wünsch ich!

Hier geht es zur Originalveröffentlichung

Hier geht es zum Artikel auf idw-online:

 

Foto: Mit ihrer neuen Methode zeigen PD Dr. Dirk Koester und seine Kollegen, wie Greifbewegungen das Verstehen von Begriffen beschleunigen. CITEC/Universität Bielefeld

 

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